Altstadtkurier - Von verborgenen Türmen und abendlichen Schutzengeln
Von verborgenen Türmen und abendlichen Schutzengeln
Ein nicht ganz ernst gemeinter Gang durch die Altstadt von Martin Westerheide, der seit 15 Jahren in der Altstadt wohnt.
Kennen Sie die Herzogspitalstraße im Hackenviertel? Sie führt vom Stachus in die Altstadt, durchquert ein Straßengewirr, das nicht nur fremde Besucher in tiefe Verzweiflung treibt und endet früh am Altheimer Eck. Die Gegend ist reich an Kirchen, Geschichten und Parkhäusern. Stellen Sie einfach dort Ihren Wagen ab und machen einen Spaziergang!
Mögen Sie orientalische Atmosphäre ohne jeden Flair? Dann dürfen Sie die Herzog-Wilhelm-Straße nicht verpassen. Sie ist die erste der etwas lieblosen und ungepflegten Gassen, die von der Herzogspitalstraße in die Fußgängerzone führen, was die Bewohner des Viertels sehr begrüßen: Kein Tourist kommt auf den Gedanken, sie zu durchqueren!
Aber einen guten Espresso gibt es dort, den ich jetzt gerade mit einem Freund, dem Doktor, trinke.
Wenn man so dasitzt und schweigt (ich bin ein großer Anhänger des Münchner Großphilosophen Karl Valentin, der anmerkte, dass alles schon gesagt wurde, nur nicht von allen), lenken einige Schilder den Blick penetrant auf die Räume der Friedrich-Ebert-Stiftung.
„Ach, die Friedrich Ebert Stiftung, das Hirn der SPD, von der habe ich ja lange auch nichts mehr gehört, was meinen Sie, Doktor?“ Der Doktor konnte sich nur daran erinnern, dass der Rechnungshof die hohen Gehälter und zahlreichen Chauffeure der Chefs kritisierte. Das glaube ich gerne: In die heruntergekommenen Räume ist offensichtlich kein Geld geflossen. Ob Martin Schulz, vor dem Kanzlerkandidat der SPD und nun Vorsitzender eben dieser Stiftung wohl schon einmal mit seinem Chauffeur hier war? Damals im Wahlkampf hatte er ja mal einen eigenen Zug, der dann ins Nirgendwo fuhr. Zum Zugfahren hat man dann keine Lust mehr. Außerdem, fügt der Doktor an, hat der Martin sich sein Leben lang hart für die Arbeiter und kleinen Leute eingesetzt. Da verdient man so etwas. Friedrich Ebert, der Sattlergeselle aus Heidelberg, wäre sicher auch dieser Meinung. Ja, der Doktor muss es wissen, der hat schließlich in Heidelberg studiert!
Ich selbst bin ja passionierter Fußgänger und lebe ohne Auto. Als Altstadtbewohner ist das ohne weiteres möglich; man sieht viel Schönes und auch Hässliches. Der Doktor, der oft in Norditalien lebt, hat hier viel auszusetzen. Ich meine, dass die Münchner viel Glück beim Wiederaufbau ihrer Altstadt hatten. Die alten Straßenzüge, Passagen und Durchgänge haben die Stadtväter wieder herstellen lassen, markante Bauten in alter oder neuer Form wieder errichtet. Da fällt der Blick gleich auf die Herzogspitalkirche und das Kloster. Hier ein Kloster? Ja, sogar das Älteste Münchens! Die Servitinnen beten hier schon in aller Stille seit über 300 Jahren. Die schlichte Renaissancefassade der Kirche wurde im Krieg zerbombt und leider nicht wieder hergestellt. Zwei junge Architekten versuchten sich am Wiederaufbau. Aber ach, Inspiration zogen sie vermutlich aus dem Baukasten ihrer Kindheit. Woher sie aber den Mut nahmen, so etwas bauen zu lassen? Das Selbstbewusstsein und die Versprechungen der Architekten sind gewaltig! „In der Kirche selbst verehren die Gläubigen das Gnadenbild der Schmerzhaften Madonna, die in der Münchner Frömmigkeitsgeschichte höchsten Rang einnimmt und zur Hofkirche wurde“ doziert der Doktor. Oft schauten die Herrscher selbst vorbei und Kaiser Franz Josef von Österreich habe in München nie versäumt, das Gnadenbild anzurufen. Die Sissi machte ihm ja auch viel Kummer!
Und im Hof der Kirche finden wir endlich den verborgenen alten Barockturm, der nach dem Krieg einsam über die Trümmerwüste ragte. „Die Älteren kennen ihn als Spitzwegturm“, erklärt der Doktor. Der Maler, der hier aufwuchs, malte ihn in das Bild „Der Klapperstorch“ hinein. Diese Bekanntheit bewahrte ihn vielleicht davor, vollkommen zugebaut zu werden. Unter der Klötzchenspitze des neuen Turms gibt es eine Stelle, der es zumindest den privilegierten Bewohnern der Häuser gegenüber erlaubt, einen Blick auf den schönen Turm zu erhaschen.
Wir passieren die Ladenzeile und der Doktor kann nie widerstehen, das Blumen- und Möbelgeschäft zu besuchen. Wenn Sie die Ödnis der ewig gleichen Ketten nicht mögen, schauen Sie da mal vorbei. Und eine kleine entzückende Kita der Caritas gibt es im Hof. Leider ist die Wahrscheinlichkeit eines Lottogewinns höher, als dort aufgenommen zu werden. Aber mit dem Gewinn können Sie daheimbleiben und müssen Ihr Kind nicht städtisch prekär betreuen lassen!
Hier weilt man gerne und kann es sich in den historischen Lokalen gut gehen lassen.
Aber der Doktor und ich müssen weiter und passieren die Hinterseite des jungen Joseph-Pschorr-Hauses. Wir fragen uns: Wieso der Aufwand, an der Fassade zur Fußgängerzone, wenn man die Gestaltung der Rückseite derart vernachlässigt? Eines der meistfotografierten Motive in München ist übrigens die weinbewachsene Fassade der Pfistermühle an der Sparkassenstraße. Sie weckt regelmäßig die Begeisterung zumindest der weiblichen Besucher. Die Herren interessiert der Biergarten. Nun ist ja viel der Rede von Schwammstadt, Stadtbegrünung usw. Bitte fangt hier an und bepflanzt die Fassade! Befördert das Mikroklima, die Vogel und Insektenwelt! Doch oh weh! Die Schwerpunkte liegen ja woanders! Auf dem breiten Bürgersteig kommt uns eine heruntergekommene Fahrradrikscha entgegen, die uns entschlossen beiseite klingelt. Ein Botschafter der neuen Ökologie.
Schon vor langer Zeit einigte sich die zivilisierte Welt Westeuropas darauf, von der Personenbeförderung durch Menschenkraft wegzukommen: Zu teuer, unrationell, ganz einfach würdelos. Die Gondeln Venedigs akzeptierten die Europäer als wunderbare Ausnahme. Die zusammengeschusterten Rikschas Münchens aber sind keine Gondeln und die Fahrer kommen leider nicht an die Ansprüche der Gondolieri heran. Wenn zwei Rikschas gemeinsam von der Maximilianstrasse kommend in hoher Geschwindigkeit in den Fußgängerteil der Sparkassenstraße einfahren und alles wegklingeln, wenn Fußgänger in den Maximilianhöfen lauthals beschimpft werden, ist das aber auch ein eigenes Erlebnis. Gerne positioniert man sich fläzend auf dem Marienplatz und stört den Fußgängerfluß.
Nein, ich sähe das zu skeptisch, erläutert der Doktor. Das Konzept sei eben noch nicht ausgereift. Und schon plädiert er (meint er es ernst?) für die Einführung der Sänfte. Sie könne nachhaltig aus Holz gebaut werden, brauche keine Räder („eine überschätzte Technik“) und schaffe pro Einheit zwei Arbeitskräfte. Angetrieben werde das ganze durch die menschliche Herzpumpe. Nach Feierabend ließen sich die Träger selbst tragen. Und aus dem Wirtschaftsministerium flößen die Subventionen! Das perfekte grüne Wirtschafts- und Jobwunder!
„Grandios!“, denke ich: Und endlich können wir auf die Elektroroller in der Altstadt verzichten, die doch nur übergewichtigen Jugendlichen Mobilitätsteilnahme in der Fußgängerzone ermöglichen, überall herumliegen und auf ihren Abstellplätzen viel Raum verschlingen. Die Stadt Paris sammelt die Scooter, eine Plage für die Einwohner, ja wieder ein, d.h. viel einzusammeln gibt es ja nicht. Ein Großteil liegt auf dem Grund der Seine.
Genug gespottet, der Doktor muss in sein Institut und ich habe es auch eilig. So verabreden wir uns für den Abend auf ein Helles am Marienplatz. Das Rathausglockenspiel am Mittag verzückt Besucher und Münchner. Was viele nicht wissen und für den einen oder anderen Bewohner neu ist: Auch am Abend gibt es eine Vorstellung! Um Punkt neun er[1]scheint der Nachtwächter mit Horn und Hund auf der linken Seite und kurz darauf wird auf der rechten Seite ein kleines Münchner Kindl von seinem Schutzengel gesegnet und unter dem „Wiegenlied“ von Johannes Brahms zur Nachtruhe geleitet. „Es kann nur am Schutzengel im Rathaus liegen, dass das Leben in der Altstadt trotz des rot-grünen Regiments noch so gut ist.“, sagen der Doktor und ich und bestellen noch einen Schnitt.